Ältere Menschen mit HIV: Wenig Wissen, aber viele Vorurteile in Pflegeeinrichtungen

Pressemitteilung zum „Tag der älteren Generation“ am 01. Oktober

Vier Menschen in einer Pflegesituation

Die Aidshilfe Tübingen-Reutlingen und die AIDS-Hilfe Stuttgart haben sich anlässlich des „Tages der älteren Generation“ zusammengeschlossen, um auf die besonderen Herausforderungen älterer Menschen mit HIV aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit dem Landesverband der Aidshilfe Baden-Württemberg wollen sie verdeutlichen, wo in der Pflege noch große Wissenslücken und generationsübergreifende Tabus bestehen, wie Stigmatisierung den Alltag erschwert – und welche Chancen in einer sensiblen, respektvollen Versorgung liegen.

Dank moderner Therapien erreichen Menschen mit HIV heute ein hohes Lebensalter. Damit rückt die Frage nach angemessener Pflege immer stärker in den Mittelpunkt. Noch immer verhindern jedoch Befangenheiten, Vorurteile und Diskriminierung in Pflegeeinrichtungen, dass ältere Menschen mit HIV die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und verdienen.

Zugleich zeigt sich: Menschen mit HIV leben in der Regel in Ballungszentren wie Stuttgart. Die Herausforderung, sie in die mobile oder stationäre Pflege zu integrieren, prägt zunehmend die tägliche Arbeit der Aidshilfen.

„Es gibt über 3.000 Menschen, die in Stuttgart mit HIV unter Therapie leben. In Baden-Württemberg sind es insgesamt rund 11.000. Viele davon haben ihr Leben ohne die Hilfe der AIDS-Hilfe Stuttgart gemeistert. Nun zeigt sich jedoch, dass sie im Alter oder bei auftretenden Erkrankungen unsere Unterstützung brauchen, da sie in das Hilfesystem eintreten müssen – und dabei vor großen Herausforderungen stehen“, erklärt Bernd Skobowsky, Mitglied der Geschäftsführung der AIDS-Hilfe Stuttgart.

Etwas anders ist die Situation in der Region Neckar-Alb gelagert: Die Aidshilfe Tübingen-Reutlingen unterstützt schwerpunktmäßig suchtabhängige Menschen mit und ohne HIV. „Menschen mit Suchterkrankung erfahren häufiger Stigmatisierung, was den Zugang zur Pflege zusätzlich erschwert“, so Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Tübingen, „anders als nicht abhängige Menschen werden sie jedoch deutlich früher pflegebedürftig“. Aktuell leben in Baden-Württemberg rund 22.000 Menschen mit problematischem Opioidkonsum, rund ein Viertel ist älter als 40 Jahre. Man müsse sich darauf einstellen, so Ströbele, dass in naher Zukunft mit einem deutlichen Anstieg älterer und zugleich pflegebedürftiger Drogenkonsumenten zu rechnen sei. 

Der Pflegebedarf von Menschen mit HIV steigt 

Dank moderner antiretroviraler Therapie steigt seit Jahren die Lebenserwartung von Menschen mit HIV kontinuierlich. Damit wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie altersbedingt Pflege brauchen – sei es ambulant, stationär oder im Krankenhaus. Mit zunehmendem Alter steigt zudem das Risiko für Begleiterkrankungen, sowohl körperlich (beispielsweise durch Infektionen, Herz-Kreislauf-Probleme oder neurologische Erkrankungen) als auch psychisch (z. B. Depressionen, Ängste). Die Pflege muss diesen besonderen Bedürfnissen gerecht werden.

Zu wenig Wissen, zu viele Vorurteile 

Viele Pflegende und Mitarbeitende im Gesundheitswesen haben nur wenig Erfahrung im Umgang mit HIV oder ihr Wissen basiert auf veralteten Vorstellungen. Unsicherheiten bestehen etwa bezüglich Infektionsrisiken, Medikamentengabe oder Hygienevorschriften. HIV ist historisch stark mit moralischen Vorurteilen behaftet. Noch immer gibt es das Bild eines „eigenen Verschuldens“, was Schuldzuweisungen und Stigmatisierung nach sich zieht. Bei älteren Menschen mit HIV verstärken sich diese Effekte häufig: Schamgefühle, Isolation und sinkende Sichtbarkeit in der Gesellschaft. Kommt zu HIV noch eine Suchterkrankung dazu, potenziert sich die Stigmatisierungs- und Diskriminierungsgefahr. Diskriminierende Verhaltensweisen im Pflegealltag sind dokumentiert: übertriebene Schutzmaßnahmen, Terminverschiebungen oder Markierungen in Akten ohne medizinischen Grund. Diese Praktiken sind nicht nur unangemessen, sondern gefährden das Vertrauen in die Pflege.

Wie kann gute Pflege funktionieren? 

Um Pflege älterer Menschen mit HIV zu verbessern, braucht es Weiterbildung und Sensibilisierung für mobile und stationäre Pflegende. Die Aidshilfen und Zentren für sexuelle Gesundheit bieten die Möglichkeit, durch die Teilnahme an Fortbildungsangeboten eine Zertifizierung für HIV-sensible oder queerfreundliche Pflege zu erhalten.  E-Learnings („HIV in der Seniorenbetreuung“, „HIV in der stationären Pflege“) bringen Fachwissen auf den neuesten Stand, bauen Vorurteile ab und schaffen Sicherheit im Umgang. Vor allem braucht es Würde, Selbstbestimmung und Respekt. Pflege muss die individuellen Bedürfnisse berücksichtigen – etwa beim Umgang mit Medikamenten, Diagnosen und persönlichen Lebenswelten. Dazu kommt Vertraulichkeit und Datenschutz. Informationen zur HIV-Infektion dürfen nur mit Zustimmung weitergegeben werden. Kennzeichnungen in Akten, die auf HIV hinweisen, verletzen das Recht auf Datenschutz und führen oft zu Diskriminierung. Mehr Gesprächs- und Unterstützungsangebote sowie ein offenes, informatives Umfeld verhindern, dass ältere Menschen mit HIV ausgegrenzt werden.

Forderungen an Politik, Pflegeinstitutionen und Gesellschaft

Wir fordern Politik und Gesundheitsverwaltung auf, Schulungen und Fortbildungen für Pflegekräfte verbindlich in Standards aufzunehmen. Pflegeheime, ambulante Pflegedienste und Kliniken müssen vorhandene Stigmatisierungsrisiken erkennen, um aktiv dagegen vorzugehen. Und wir fordern, die gesellschaftliche Akzeptanz zu stärken: Mit HIV kann man heute unter Therapie gut und lange leben. Zudem schützt die Therapie vor einer Übertragung. Aufklärung und offene Kommunikation können helfen, unnötige Ängste und Vorurteile zu beseitigen und das Bewusstsein für ein Leben mit HIV zu verändern.

„Ein Virus kennt weder Geschlecht noch Alter“

Menschen mit HIV werden älter – und mit dem Alter steigen die Anforderungen an Pflege und gesellschaftliche Akzeptanz. Wir stehen an einem Wendepunkt: Zwischen dem bisherigen Schweigen und der Chance, die Lebensqualität und Teilhabe HIV-positiver Menschen nachhaltig zu verbessern. „HIV darf im Gesundheitswesen nicht mehr ignoriert werden“, sagt die bei der Aidshilfe Tübingen für Bildungsangebote zuständige Pädagogin Melanie Eisele, „HIV-positive Menschen verdienen eine pflegerische Versorgung ohne Angst vor Diskriminierung. Das funktioniert aber nur, wenn Fachkräfte ausreichend informiert sind und eine HIV-Diagnose im Krankenhaus oder Pflegeheim kein Sensationsereignis mehr darstellt.“ Mustafa Kapti, Sozialarbeiter bei der AIDS-Hilfe Stuttgart betont: „Alle Einrichtungen, die mit Pflege zu tun haben, müssen sich jetzt auf die wachsenden Herausforderungen einstellen und konkrete Maßnahmen ergreifen. Wir arbeiten täglich gegen Stigmatisierung und setzen uns für Aufklärung ein – denn ein Virus kennt weder Geschlecht noch Alter. Entscheidend ist, dass ältere Menschen mit HIV respektvolle und kompetente Pflege erfahren.“

Der 1. Oktober soll daran erinnern, worauf es ankommt: Respekt, Wissen und eine Pflege, die niemanden ausschließt.

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